Soviel zum selbstbestimmten Leben eines Rollifahrers

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Weissnix
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Soviel zum selbstbestimmten Leben eines Rollifahrers

#1

Beitrag von Weissnix » Freitag 8. Juli 2011, 16:18


Das Maß ist voll.

Berlin (kobinet) Am 1. Juli 2001 trat das Sozialgesetzbuch IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen in Kraft. Nach 10 Jahre besteht eine Riesenkluft zwischen Gesetzestext und Umsetzung wie bei kaum einem anderen Gesetz in Deutschland. "Das Maß ist voll", so Andrea Schatz heute im kobinet-Interview. Die beruflich und ehrenamtlich engagierte Frau im Rollstuhl moniert, dass Reha-Leistungen und Teilhaberechte oft nur durch Widersprüche und Klagen erkämpft werden müssen.

kobinet: Dies konstatierte kürzlich auch eine Tagung der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen ...

Schatz: Ebenso erschweren auch Falschauskünfte, Etikettenschwindel, Bürokratie, falsch verstandenes Sicherheitsdenken unsere Teilhabe am Leben. Behinderte Menschen müssen immer vorausschauend sein. Als Rolli-Benutzerin muss ich z. B. jeden Schritt und jede Aktion planen, oft sogar anmelden - und dies seit Jahrzehnten.

kobinet: Was ist da alles zu beachten?

Schatz: Sehr viel.
• jeden Weg (abgesenkte Bordsteinkanten? Wenn ja, im Winter geräumt?, Unebenheiten? Kopfsteinpflaster?)
• jeden Kultur- und Restaurantbesuch (Stufen? Aufzug? Rolli-WC?)
• jede Autofahrt (Parkplatz in der Nähe?)
• jeden Stadtbummel (ebenerdige Geschäfte? Geldautomat im Sitzen zu bedienen?)
• jeden Toilettengang (öffentliches Rolli-WC?)
• jede Fahrt mit öffentlichen Nahverkehrsmitteln (Niederflurbahn?)
• jede Zugfahrt (Hublift? Mobilitätsservice angemeldet?)
• jede Übernachtung (rolligerechtes Zimmer?)

kobinet: Eine umfangreiche Liste ...

Schatz: Es ist lästig und anstrengend, immer vorab überlegen und organisieren zu müssen, aber es gehört zu meinem Leben und zu dem vieler behinderter Menschen. Inakzeptabel ist, wenn trotz Vorplanung und deklarierter Barrierefreiheit oder versprochenem „Tourismus für alle“ nichts richtig funktioniert oder nur unter demütigenden Bedingungen.

kobinet: Aktuelle Beispiele?

Schatz: Aus dem prallen Leben gegriffen, hier eine kleine Auswahl meiner Erlebnisse und Erfahrungen der letzen Monate:

• Kino - Variante 1: Das Gebäude ist zugänglich. Aber im Saal kommst du nur bis zur 1. Reihe. Wer setzt sich dort freiwillig hin? (O-Ton: "Da hätten Sie sich vorher erkundigen müssen, in welchem Saal der Film spielt.")

• Kino - Variante 2: Das große Multiplexkino hat einen Aufzug. Aber der fährt nur mit Schlüssel. (O-Ton: "Sonst würden ihn Unberechtigte nutzen.") Der Mensch, der den Schlüssel hat, wird ausgerufen. Als er endlich kommt, hat der Film begonnen. Der Schlüsselmensch aktiviert den Aufzug für die entsprechende Kinosaal-Etage. Du möchtest aber vorher noch auf Toilette. Das Rolli-WC ist jedoch auf einer anderen Etage als der Kinosaal. Der Schlüsselmensch muss wieder gerufen werden. Inzwischen hast du 30 Minuten deines Films verpasst.

• Toilette - Variante 1: In der Fußgängerzone gibts ein öffentliches Rolli-WC. Aber dein Euro-Schlüssel passt nicht, denn das WC ist nicht mit dem Euro-Schließsystem ausgestattet. Dafür hängt ein Schild an der Tür: "Den Schlüssel holen Sie sich bitte bei der Touristeninformation" (oder bei der Gaststätte XY …) Wenn du Glück hast, ist die Touristinformation geöffnet, oder die Gaststätte XY. Du hast noch mal Glück, wenn sich auch der Schlüssel findet. Und richtig Glück hast du, wenn du dir bis dahin nicht in die Hosen gemacht hast. (O-Ton: "Euro-Schließsystem? Kennen wir nicht. Wir haben hier unser eigenes System.")

• Toilette - Variante 2: Die Gaststätte hat ein Rolli-WC. Aber wenn du rein willst, ist sie vollgestellt mit Sonnenschirmen, Gartenstühlen, Heizlüftern... (O-Ton: "Sorry, aber wir wussten nicht wohin damit.").

• Bahnfahrt - Variante 1: Du hast bei der DB Mobilitätsdienst und Hublift für einen Zug angemeldet. Dein Termin ist eher zu Ende, so dass du mit einem Zug früher fahren möchtest, wofür du nun den Hublift brauchst. Aber das wird dir verwehrt. (O-Ton: "Das geht versicherungsrechtlich nicht. Sie müssen den Zug nehmen, für den Sie den Hublift angemeldet haben.")

• Bahnfahrt - Variante 2: Dein Zug geht früh um 5:30 Uhr. Aber als du Mobilitätsdienst und Hublift bestellen willst, wird es abgelehnt. (O-Ton: "Um diese Zeit ist noch kein Servicepersonal da. Sie müssen später fahren.") Dies nicht etwa in Kleinkleckersdorf, sondern in einer Landeshauptstadt.
Abends das gleiche Spiel. Nach 23 Uhr kommst du mangels Personal auch in der Hauptstadt Deutschlands nicht aus dem Zug.

• Bahnfahrt - Variante 3: Mobilitätsdienst, Hublift, alles hat geklappt und du sitzt glücklich im Zug. Aber du stellst fest, es gibt kein Rolli-WC. (O-Ton: "Leider wurde vergessen, den Wagen anzuhängen.")

• Ein Badeort wirbt mit einem Strandrollstuhl, mit dem Rollis ins Wasser kommen. In fröhlicher Erwartung fährst du hin, obwohl der Strand weit entfernt ist. Der Strandrolli ist da, aber er ist eingeschlossen. Niemand weiß, wo der Schlüssel ist oder wer ihn haben könnte. (O-Ton: "Das tut mir leid, kommen Sie doch morgen wieder.“)

• Im Fahrplan ist eine Niederflurbahn ausgewiesen. Aber es kommt eine hohe Straßenbahn mit Stufen. (O-Ton: "Wird schon noch eine kommen.“)

• Die Wege und Fußgängerbereiche einer Innenstadt sind neu gestaltet. Aber es wurde Kopfsteinpflaster verlegt. (O-Ton: "Das ist denkmalsgerechte Sanierung.")

• Ein Rolliparkplatz ist vorhanden. Aber er ist widerrechtlich besetzt – und zwar mehrfach durch die Polizei, das LKA höchstselbst. (Leider kein O-Ton, weil ich niemanden erwischte.)

• Du hast ein "rollstuhlgerecht" deklariertes (und damit teures) Hotelzimmer gebucht. Aber du kommst nicht auf die Terrasse/den Balkon (Schwelle) oder kannst nicht duschen (keine Griffe) oder musst beim Kacken die Tür auflassen (zu eng)

kobinet: Diese Liste könnte endlos weiter geführt werden ...

Schatz: Viele von uns haben ähnliche Situationen hunderte Male erlebt. Und mit jedem Mal werden die Nerven dünner, reagiere ich verzweifelt oder wütend. Niemand muss und sollte sich diese entwürdigenden Zustände bieten lassen. Und erst recht nicht wir, die wir als Betroffene Gleichstellungsgesetze und Verordnungen zur Barrierefreiheit durchgesetzt haben. Trotzdem müssen wir weiter kämpfen, denn sonst wird sich nichts ändern. (Das Gespräch führte Franz Schmahl) sch
Quelle


Sehr interessant sind auch die Leserbriefe dazu, die ganz offen darlegen, daß der Boykott des selbstbestimmten Lebens sich nicht nur auf Rollinutzer beschränkt.

An die Mods: Ich habe den Artikel bewusst in den offenen Bereich eingestellt, damit gerade Otto Normalverbraucher Chancen hat, zu sehen, wo er was ändern könnte.
Tschüß
Michael

Diskriminierung der Rollifahrer von A - Z!
Highway to hell (AC/DC) - Stairway to heaven (Led Zeppelin)

darkshadow
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#2

Beitrag von darkshadow » Freitag 8. Juli 2011, 18:26

Hallo Michael,

danke für die Einstellung und die diversen Hinweise unserer Rollifahrer in den vergangenen Tagen.
Für mich, der ich ja selbst körpergeschädigt aber (noch?) "Fußgänger" bin, war dies sehr informativ.
Viele angesprochene Probleme der Rollifahrer waren mir in dieser drastischen Form bisher nicht bewusst.

Liebe Grüße Stephan

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