Offener Brief zu 50 Jahre Contergantragödie

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Daniel

Offener Brief zu 50 Jahre Contergantragödie

#1

Beitrag von Daniel » Donnerstag 24. November 2011, 16:34

Lieber Henning!

Dies ist für deinen Verteiler. Der erste offene Brief zu diesem Thema landete damals in einer
Fragestunde des Bundestages. Damals antwortete das Kanzleramt lapidar, dass die Bundeskanzlerin
grundsätzlich keine offenen Briefe beantwortet. Schauen wir mal, ob ich diesmal doch eine Antwort bekomme.

Christian G. Knabe, Bild und Text

Georg-Kerschensteiner-Str. 17, 81829 München, Tel.: 089/569967, mobil: 0163/2975502

E-Mail: chgknabe@t-online.de, www.fotoreport-web.com



Bundeskanzleramt
zu Händen der Bundeskanzlerin
Willy-Brandt-Str. 1

10557 Berlin


Offener Brief zu 50 Jahre Contergantragödie





Sehr geehrte Frau Merkel!



Als ich 2003 meine erste Ausstellung in Bulgarien hatte, bekam ich ein Grußwort des
damaligen Ministerpräsidenten Simeon Sakskoburgotski, dass mit einer alten Grußformel
aus der Zeit des Königreiches begann: „Dragi Gospodin Knabe!“ Das ist unübersetzbar.
Die Grußformel bedeutet Wertschätzung und Freundschaft in einem. Dem Ministerpräsidenten
war es völlig egal, dass ich Conterganopfer war, obwohl er es natürlich wusste. Er hat 2008
Unterlagen über die Contergantragödie direkt an das spanische Königshaus weitergeleitet und
mir das in einem sehr privaten Brief mitgeteilt.



Sie selbst haben auch einmal meine kurzen Arme übersehen und mit meiner Kamera für einen
kurzen Moment geflirtet. Auch das war ein Zeichen Ihrer Wertschätzung! Der Cheffotograf des
Münchner dpa-Büros sagte über das dabei entstandene Bild, dass es das schönste Foto von
Ihnen sei, das er kenne. Es entstand Anfang der 90`iger Jahre in Tutzing, als Sie mit Gerhard
Baum im Gespräch waren.



So wie Sie und der Bulgarische Ministerpräsident es taten, mich nämlich als einfachen Mitmenschen
zu sehen, so behandeln uns sehr viele andere Menschen auch – hier und anderswo! Etwa ein Jahr,
nachdem ihr Portrait entstand, traf ich eine Jugendliebe wieder. Sie erfuhr endlich von meiner Liebe
zu ihr und ich, dass ihre Mutter damals Briefe nicht weitergeben hatte, sodass wir nicht zusammenfanden.
Ich war halt Sozialhilfeempfänger, und so einen wollte die Mutter nicht für ihre Tochter.



Wir merkten bei unserem Treffen, dass wir uns in verschiedene Richtungen entwickelt hatten und nun nicht
mehr zusammen passten. Sie fand später einen Mann und hat mit ihm heute einen Sohn. Unser Treffen hat
ihr wohl wieder Mut gemacht. Ihr Selbstwertgefühl war geheilt. Da hatte Contergan offensichtlich einen
weiteren Menschen verletzt – in seiner Seele, obwohl da keiner eine Tablette genommen hatte.



Warum war das eigentlich passiert? Das ist eine sehr ernste Frage, denn die Bundesregierung hatte doch
einmal versprochen, sich um die Conterganopfer zu kümmern. Das Verfassungsgericht hat am Ende seines
Urteils 1976 auch einen Leitfaden dazu grob umrissen. Der Staat sollte immer wieder nachsehen, wie es den
Betroffenen geht um bei Bedarf die Zuwendung der Stiftung entsprechend anzupassen. Das hätte mit Erreichen
der Volljährigkeit schon geschehen müssen, damit niemand in die Sozialhilfe abrutscht.



Statt den Betroffenen auch medizinisch zu helfen, verschwanden zunächst die Stützpunkte und dann noch
die Universitätsklinik in Heidelberg. Heute gibt es nur noch einen Orthopäden in Nürnberg, der sich umfassend
auskennt, und der liegt seit August im Krankenhaus. Es gibt keinen Nachfolger, und das kann bedeuten, dass
sein Fachwissen für immer verloren geht. Es ist nur der Initiative der Conterganopfer in Nordrein-Westfahlen
zu verdanken, dass es dort einen zweiten Orthopäden gibt, der aber nicht über das ganze besondere
Fachwissen verfügt.



Die vielen Untersuchungen und Forschungsarbeiten, die über die Contergankinder gemacht wurden, haben
nie zu Gesundheitstipps oder ähnlichem geführt. So kam das Unvermeidliche: Fehlbehandlungen, schwere
Folgeschäden und unentdeckte Conterganschäden. Wer wird für dieses schwere Versäumnis gerade stehen,
die Stiftung, der Staat?



Die Grünenthal GmbH hat damals (zusammen mit den Eltern) das einzig Richtige getan, angesichts der vielen
Opfer, die sie nie hätte angemessen versorgen können: sie hat sich an den Staat gewandt. Es begann mit der
Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 28. 10. 1969, also etwas mehr als einem Jahr vor dem Vergleich
im Conterganprozess. In dieser Regierungserklärung wird die heutige Conterganstiftung in groben Zügen
bereits umrissen! Mit der Erklärung der Eltern vom 10. April 1970 im Anhang des Vergleiches, in der Sie auf
alle Ansprüche gegenüber der Firma verzichteten, auch für zukünftige Forderungen entstand jener
Versorgungsanspruch gegenüber dem Staat, den es jetzt endlich umzusetzen gilt. Der Conterganprozess
endete im Dezember 1970!



Wenn nun wieder die Firma ins Spiel gebracht wird, dann geht es nur darum in ihr einen möglichen Spender
zu finden. Ein Anspruch besteht nicht mehr. – Und Sponsoren beschimpft man nicht!



Über 30 Jahre hat die Bundesregierung nicht versucht, etwas über die Lebenssituation der Opfer zu erfahren.
Seit diesem Jahr läuft im Auftrag des Staates eine Studie der Universität Heidelberg. Und was will die
Bundesregierung von uns wissen?



Da kann man auf Seite 37 des Fragebogens den Punkt 305 ankreuzen und so folgendes indirekt der
Bundesregierung mitteilen: „Ich denke, dass man sich noch lange nach meinem Tod an mich erinnern wird.“
Also mir fällt dazu ein Lied des Holländischen Liedermachers Herman van Veen ein: „Des Richters linke
Hand bebt und weiß nicht, was die Rechte tut. Des Richters rechte Hand lebt von dem, was kein Richter tut.
Und jeder macht die Augen zu und sagt nicht, was er weiß – lieber feig und leben, als ein Held um jeden Preis.“



30 Jahre keine Information und 30 Jahre das Märchen bei Sitzungen der Verbände der Conterganopfer:
„Wir dürfen nicht mehr Geld verlangen, weil wir sonst unsere Rente ganz verlieren würden.“ Das ist nicht
gerade ein Ruhmesblatt für die Vereine. Niemand weiß, wer das Gerücht, das von München bis Flensburg
herumerzählt wurde in die Welt gesetzt hat.



Seit 2007 hat sich da endlich bei den Conterganopfern selbst etwas getan – aber noch nicht genug. „Mir geht
es doch gut! Ich kann doch alles“, höre ich manchmal. Aber dann kommt hinten dran die Erzählung vom
Bandscheibenvorfall. Manchmal bekommen die Betroffenen kein Pflegegeld, weil sie voller Stolz zeigen, was
sie alles können, obwohl sie dadurch die Folgeschäden provozieren. Ein anderer sagte: Ich verdiene aber
viel mehr!“ Es ging um die Frage, ob man nicht eine Einkommensbeihilfe von mindestens 1800 Euro zuzüglich
der Conterganrente vorschlagen könne. Auf die Frage, wie hoch denn seine Rente wäre, wenn er von heute
auf Morgen nicht mehr arbeiten könnte, meinte er kleinlaut: „1300 Euro.“ Wie gesagt: „Lieber feig und leben,
als ein Held um jeden Preis!“



Der gut verdienende Mann hatte dieses Jahr plötzlich große Probleme mit der Halswirbelsäule. Er konnte
eine Zeit lang nicht mehr für seinen Arbeitgeber ins Ausland reisen. Es war knapp!



Dann meint ein Richter im Februar 2011 (Sozialgericht Aachen, Urteil vom 01. 02. 2011, S 13 KR 235/10),
dass die Conterganstiftung ihre Leistungen noch ausweiten müsse, oder dass man eine andere staatlich
finanzierte Lösung finden müsse. Der Bundestag müsste das Stiftungsgesetz also überarbeiten, denn nur
so können die Stiftungsleistungen ausgeweitet werden. Der Richter musste das Gesuch eines Conterganopfer
auf volle Finanzierung Dritter Zähne durch die Krankenkasse ablehnen. Dabei hat des Richters linke Hand
aber deutlich gebebt.



Sehr geehrte Frau Merkel, ich appelliere angesichts der vielen noch lebenden Conterganopfer an Sie, aber
auch an alle Abgeordnete des Deutschen Bundestages:



„Setzen Sie dem Leiden der Conterganopfer ein Ende indem Sie das einstige Versprechen der Bundesregierung
einlösen, sich um die Opfer des Schlafmittels Contergan zu kümmern und sie angemessen zu versorgen. Und
holen Sie die Betroffenen auch raus aus der Sozialhilfe, damit eine jahrzehntelange menschliche Tragödie ein
gutes Ende findet!



Dass man die Conterganopfer jahrzehntelang zu Sozialhilfeempfängern machte ist als ob man unseren
Mitmenschen verbieten wollte uns zu lieben. Was soll denn die Welt über Deutschland denken?“







Hochachtungsvoll,



Christian G. Knabe







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